Städtereise Baltikum: Brückenstadt zwischen Ost und West: die lettische Metropole Riga

Allein dieser elegante Hut. Die Krone mit Federgesteck und Silberbroschen geschmückt, die Krempe riesig wie ein Wagenrad. Und darunter ein triumphierendes Lächeln. Es gehört Gunta Megne-Sirma, die an diesem Nachmittag durch die kühlen Räume führt, hier auf einen Lüster aus Opalglas zeigt, dort auf einen bestickten Vorhang. Als wir uns in einem Zimmer die Stuckdecke anschauen, die mit Margeriten-Motiven verziert ist, fragt die Mittdreißigerin fröhlich: „Ist das nicht die schönste Wohnung der Welt?“

Acht Zimmer, 208 Quadratmeter, vier Meter hohe Decken: Das Jugendstilzentrum, durch das uns Megne-Sirma führt, befindet sich in einem 1903 erbauten Mietshaus an der Alberta iela, der Albert- Straße. Heute ist die Wohnung in Rigas Altstadt ein Museum, eingerichtet mit Original-Mobiliar: mit Sofas, Stühlen und Horn-Grammophonen bis hin zu einem holzvertäfelten Eisschrank.

An der Alberta steht ein Jugendstilpalast neben dem anderen. Staunend wandert der Blick über himmelblaue Fassaden hinauf zu steinernen Löwenmasken und barocken Amazonen, zu spitzen Schiefergiebeln und langen Gesimsen.

Umgeben von Art nouveau

Nirgendwo sonst auf der Welt stehen so viele Jugendstilhäuser wie in Riga. Um 1900 erlebte die Hansestadt einen enormen Aufschwung und entwickelte sich rasch zur Stil-Metropole mit mehr als einer halben Million Einwohnern. Lokale Architekten wie Michail Eisenstein, dessen Sohn Sergej 1930 mit dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ berühmt wurde, schufen in kurzer Zeit verblüffend viele, meist fünfstöckige Jugendstilhäuser.

Zwar entstand Ähnliches damals auch in Brüssel, Paris, München und Leipzig. Rigas rund 800 Art-nouveau-Gebäude indes zeichneten sich durch ihr besonders opulentes, meist heiter-verspieltes Dekor aus.

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Heute machen diese Stilikonen in der Innenstadt immerhin ein Drittel aller Gebäude aus. Die schönsten Fassaden, fast 30 Jahre nach Ende der Sowjet-Ära meist prächtig renoviert, lassen sich am besten zu Fuß entdecken. Nie ist man in Riga unterwegs, um nur ein Ziel zu erreichen. Die Baustile in Lettlands Hauptstadt sind so vielseitig, dass jeder Gang zur Erkundungstour wird. In der Altstadt mit den verwinkelten Konventshöfen und hanseatischen Stufengiebeln lockt „Buddenbrooks“- Flair. Auf dem Rathausplatz steht das Schwarzhäupterhaus im gotischen Stil, einst Treffpunkt der vorwiegend deutsch-baltischen Bürgerschaft.

Eine neue Bibliothek als Attraktion

Nicht weit entfernt, am anderen Ufer der Daugava, erhebt sich pyramidenartig die 68 Meter hohe Nationalbibliothek, entworfen vom lettisch-amerikanischen Architekten Gunnar Birkerts.

„Sydney hat seine tolle Oper, Hamburg die Elbphilharmonie, nun haben auch wir uns mit dieser Bibliothek ein modernes Wahrzeichen geschaffen“, sagt Ieva Zibarte, 46. Die Architektin führt durch ein helles Atrium hinauf zum Herzstück des gläsernen Avantgarde-Baus: einer teilweise verspiegelten Bücherwand, die über fünf Etagen reicht. Das Riesenregal sei auch ein Design-Objekt, sagt Zibarte. „In modernen Bibliotheken sieht man kaum noch Bücher, dem wollten wir entgegenwirken.“

Zur Eröffnung vor vier Jahren bildeten die Bürger der Stadt eine Menschenkette, um den Bestand der alten Nationalbibliothek über die Daugava in den Neubau zu tragen. Eine Begeisterung, die bis heute anhält; täglich kommen bis zu 2000 Besucher.

Seit Monaten feiert Lettland mit großer Fanfare und viel Folklore seine Staatsgründung vor 100 Jahren. Am vergangenen Wochenende klang das Jubeljahr zum Nationalfeiertag am 18. November mit dem Lichterfestival „Staro Riga“ aus –“Riga erstrahle“. In der Stadt herrscht Aufbruchsstimmung, bereits im Sommer fand die erste Biennale statt, mit Werken von mehr als 100 Künstlern aus aller Welt.

Alte Bauten, neues Leben

Viele Besucher eilen vom Flughafen zuerst in die Miera-Straße. Kaum einer ist dort über 30, beliebt sind Bars wie „Autentika“, „Modernist“ und „Valmiermuiža“. „Erbaut 1887 von C. Stritzky“ steht verblichen auf Deutsch oben auf dem Gemäuer einer ehemaligen Bierfabrik. Im Hinterhof werden Heringe gegrillt, dazu warmes Roggenbrot.

Überall tüfteln hier junge Köche an einem eigenen, lettischen Stil. „Wir sind eben ein nordisches Land, da kommt alles Gute aus den Wäldern und den Gärten“, sagt Zanis Behmanis, 28, Souschef im Restorans 3. Zur Vorspeise gibt es bei ihm Holunderblüten und frittierte Ameisen auf Möhrengemüse, danach Dorsch in Birkensaftsirup. Getrunken wird ein fruchtiges Malz-Pils, eines von über 100 verschiedenen heimischen Bieren. Das Brauen, sagen die Letten, sei Teil ihrer DNA.

„Das da drüben war einmal eine große Textilfabrik“, sagt Artis Zvirgzdins, 44, und zeigt auf eine imposante Bauruine nahe der Miera. „Nun richten Künstler hier ihre Ateliers ein.“ Zvirgzdins betreibt eine Architektur-Website und führt Besuchergruppen durch Riga. Einer seiner Lieblingsorte ist die Flussinsel Kipsala. Am Ufer stehen idyllische alte Kapitänshäuser aus Holz. Der Blick auf die Altstadt lässt Besucher andächtig verstummen.

Die Holz-Architektur war einst weit verbreitet in Riga. Viele der rund 4000 noch existierenden Holzbauten wurden wiederhergerichtet, besonders prächtig im nahe gelegenen mondänen Kurort Jurmala am 30 Kilometer langen Ostseestrand. Hier, an der baltischen Riviera, kurte bereits Katharina die Große. Heute kommt eher der Geldadel, und vor manch einer der Holzvillen – reich verziert im byzantinischen Stil – steht ein Porsche mit Moskauer Kennzeichen.

Auf den Promenaden herrscht russischlettisch- englisches Sprachengewirr. Schnell ist zu spüren, dass Riga nach wie vor eine Brückenstadt ist – zwischen Ost und West.