„Wir siiiiiingen: Uffta, uffta, uffta, täääteräää!“ Laut gröhlend zieht der Junggesellenabschied von der Kneipe los, auf zum nächsten Laden. Dass die Jungs am vergangenen Samstagabend auch an Wohnhäusern vorbeibrüllen, ist egal. Hier ist schließlich St. Pauli, eines der weltweit bekanntesten Amüsierviertel. Hier darf man die Sau rauslassen, in Hauseingänge pinkeln, laut sein, sich peinlich machen. Geil!
Seit Jahren feiert Hamburg einen Besucherrekord nach dem nächste. Knapp 14 Millionen Übernachtungen wurden im vergangenen Jahr gebucht, jeder vierte Gast kam aus dem Ausland. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Die Tourismusbranche ist entzückt, die Bewohner der touristischen Hochburgen der Hansestadt weniger. Denn ihre Viertel werden überschwemmt, mit Müll, Lärm, Krawall, Menschenmassen. Vor allem St. Pauli – immer schon Amüsier- und Rotlichtviertel – ächzt unter der Last der Touristen. Denn die Gäste kommen nicht, um in den Vororten der Hansestadt zu hocken, sondern wollen die Alster und Elbphilharmonie – und natürlich die „sündige Meile“ sehen.Heft-Lesestück: Reeperbahn-Reportage 18.00
St. Pauli soll Weltkulturerbe werden
Nun überrascht eine Initiative vom Kiez mit einem irren Vorstoß: Sie wollen, dass das Viertel rund um die Reeperbahn immaterielles Kulturerbe der Unesco wird. Treiberin hinter der Idee ist die Quartiersmanagerin Julia Staron – und sie hat schon viel Unterstützer überzeugt. Behörden, Geschäftsleute, Vereine, Anwohner, Kirche – sie alle finden die Idee gut. Ihre Hoffnung: Der Status als Kulturerbe soll den Stadtteil schützen. Vor einer „Disneysierung“, wie Stadtteil-Initiativen fürchten. „Beim immateriellen Weltkulturerbe geht es nicht um eine Art Denkmalschutz. St. Pauli soll genauso wenig Freilichtmuseum werden, wie’s ein Disneyland für Erwachsene und Halbstarke ist“, heißt es dazu von den Verantwortlichen.Sexy und intelligent – diese hohe Hacken nehmen es mit Trump und AfD auf, 6.45 Uhr
Die Probleme rund um die Reeperbahn
Ein Unesco-Titel als Rettungsanker? Tatsächlich kommt in diesem Viertel viel zusammen, unter dem auch andere Quartiere in Deutschland kranken. Durch die steigende Beliebtheit explodieren die Mieten. Anwohner mit kleinem Geldbeutel werden verdrängt – aber auch Händler haben das Problem. Die Ladenmieten sind hoch, alt eingesessene Händler verschwinden. „Auf St. Pauli selbst übt man sich in der Kunst, Kommerzialisierung und Stadtteilidentität in der Balance zu halten – gegen die Last der Besucherrekordzahlen und den ‚Goldrausch‘ einiger Investoren. Doch angesichts schwindender Identifikationsmerkmale, muss man sich fragen: Wie lange hält St. Pauli das aus?“, heißt es in dem Antrag.Miete erhöhen: wie sich Mieter wehren_10.30
Zu den Touristen kommen noch Großevents, die die Situation verschärfen. Der Supergau erwartet die St. Paulianer dieses Jahr am 14. Juli. Dann entern rund 400.000 Fans des Schlagermoves die Straßen, dazu kommen rund 50.000 Fußball-Freunde, die auf der Fan-Meile das Endspiel der WM sehen wollen. Und natürlich die ganz normalen Touristen, die von dem Auflauf an Menschenmassen nichts ahnen. Für die rund 23.000 Einwohner des Viertels eine Belastungsprobe. Immerhin haben sie dann schon den Hafengeburtstag (mehr als eine Million Besucher) und die Harleydays (rund 600.000 Motorrad-Freunde) hinter sich.
Die Furcht der Anwohner, dass St. Pauli zunehmend zu einer Party-Kulisse verkommt, scheint gerechtfertigt. „Das ist hier ein 400 Jahre gewachsener Kultur- und Lebensraum“, sagt Initiatorin Staron zum stern. Gemeinsam hat sie mit Kultur- und Geschichtswissenschaftlern den Antrag erarbeitet. „Wir wollen mit der Bewerbung auch international Aufmerksamkeit dafür, dass St. Pauli keine Kulisse ist.“Keine Herrenwitze mehr: St. Pauli verbannt sexistische Werbung aus dem Stadion 19.10
Immaterielles Kulturerbe: Knabenchor und Skatspiel
Die Auszeichnung der Unesco wäre keine Lösung für das Touristenproblem, sondern ein Ausrufezeichen im Kampf Kultur und Kunst gegen Kommerz und Konsum. Ein Blick auf andere Großstädte, beispielsweise Barcelona oder Rom, zeigt, wie schnell der Tourismus überhand nehmen kann. Natürlich brauchen Städte die Reisenden, aber die Bewohner spüren die zunehmende Ohnmacht. Daher ist der Wunsch, Weltkulturerbe zu werden, auch ein Hilferuf. Pastor Interview St. Pauli 13.44
Sollte sich die Unesco dazu durchringen, St. Pauli diesen Titel zu verleihen, würde sich der Stadtteil in eine illustre Liste einreihen. Seit 2014 zählen der Rheinische Karneval und die Sächsischen Knabenchöre dazu. Das Tonnenabschlagen in Mecklenburg-Vorpommern wurde 2016 genauso aufgenommen wie das Skatspiel.
Doch leicht wird es nicht, St. Paulis Lebensart in diese Liste zu bekommen. Denn die Messlatte hängt hoch. Die Kriterien der Unesco scheinen schwammig – und sind doch knallhart. Doch für die Initiative ist der Weg das Ziel. „Wenn’s gut läuft, bekommt St. Pauli über diesen einzigartigen Selbstfindungsprozess eine Art neues kollektives Selbstbewusstsein, dass alle Aspekte unserer extrem bunten Stadtteilpersönlichkeit miteinander verbindet“, heißt es in dem Antrag. Nun sollen zunächst Bewohner des Viertels in einer groß angelegten Umfrage festhalten, was ihr Viertel ausmacht – und was schützenswert ist. „Und wenn’s ganz optimal läuft, können wir tatsächlich über die Bewerbung und was auch immer daraus wird, der Welt zeigen, dass St. Pauli viel, viel mehr ist, als Reeperbahn, Rampen-, Rot- und Blaulicht.“160108_SternreporterReeperbahn 19.00