Es dauert nicht lange an diesem sonnigen Vormittag, bis es offensichtlich wird: Fräulein Ziermanns Gespür für Stein. Gerade steht sie mit verschränkten Armen unter einem enormen Felsbrocken, vor ihr in der Wand hängt ein junger Mann und kommt nicht recht voran. „Hm“, sagt Kletterlehrerin Janine Ziermann und mustert die schroffe Oberfläche mit ihren Löchern und Rissen. „Versuch mal den Tritt links und die rechte Hand ein Stück höher.“ Klappt. Schon geht es für ihren Schüler weiter nach oben. Seine Route heißt „Hans im Glück“, Schwierigkeitsgrad 5 minus.
Es gibt viele gute Gründe für einen Urlaub in Pottenstein. Das Städtchen zwischen Nürnberg und Bayreuth ist so putzig wie seine Umgebung idyllisch: Fachwerkhäuser drängen sich um eine fast tausend Jahre alte Burg wie Schutz suchende Entenküken um ihre Mutter. Gleich drei kleine Bäche gluckern durch den Ort, vorbei an Forellenteichen und alten Mühlrädern. In der Umgebung locken schattige Schluchten und Sonnenhänge mit Wacholder und seltenen Orchideen zu Wanderausflügen. Dazu der fränkische Dreiklang aus würzigem Bier, Schäufele (Schweineschulter) und einem wohlig geseufzten „Allmächd, is des schäi!“.
11 300 Routen
Was Pottenstein jedoch außergewöhnlich macht: Egal, in welche Himmelsrichtung man schaut – überall stehen Felsen. Türme und Massive, Überhänge und Kanten, Tore und Durchblicke. Der Grund dafür liegt lange zurück. Früher, das heißt vor gut 150 Millionen Jahren, war hier mal ein tropisch warmes Flachmeer, belebt von Schwämmen und Mikroorganismen, die am Boden Bänke bildeten. Heute ragen die Kuppen der ehemaligen Riffe weithin sichtbar in die Landschaft, ihre Flanken aus Kalkstein und Dolomit locken Kletterfans aus der ganzen Welt an. Mehr Gefels, mehr vom Regen ausgespülte Klüfte und Höhlen findet man nirgendwo sonst in Deutschland, die Alpen ausgenommen.
Als die ersten Touristen gelten Studenten aus dem nahen Erlangen, die 1793 nach einem Wanderritt aufmerksam machten auf „eine Gegend, die zu tausend Schwärmereien einladet“. Später folgten prominente Besucher wie Fürst Pückler-Muskau oder Richard Wagner. Anfang des 19. Jahrhunderts bekam die Region einen neuen Namen: Fränkische Schweiz. Die Berge sind zwar nur rund 600 Meter hoch. Wegen der tief eingeschnittenen Täler wirken einige Landstriche dennoch erstaunlich alpin.
Janine Ziermann verbringt seit gut sieben Jahren ihre Sommer in der Region. Die 39-jährige Biologin aus Thüringen ist eine von zwei Trainerinnen der Bergsportschule Proalpin und gibt mehrtägige Kurse, nicht nur für Fortgeschrittene. An Abwechslung mangelt es nicht: Allein um Pottenstein sind 60 Kletterfelsen erschlossen, im ganzen Gebiet kann man aus mehr als 11 300 Routen wählen.
Wer sich selbst mal in einen Klettergurt zwängt und in die ein bis zwei Nummern zu engen Schuhe – schließlich soll jede Unebenheit des Steins genau erspürt werden –, fühlt sich wie beflügelt. Schon nach wenigen Stunden Einweisung lassen sich selbst für Anfänger leichtere Touren bewältigen. Nur beim Abseilen aus über zehn Meter Höhe kommt etwas Panik auf. „Stürze gehören beim Sportklettern dazu“, sagt Ziermann. „Viele Routen erschließen sich erst nach mehreren Versuchen.“
Fränkischen Schweiz von unten
Wer danach eine Erfrischung braucht: Pottensteins Jugendstil-Freibad liegt unter einem gewaltigen Felsmassiv, wo sonst. Wer genau hinschaut, erkennt in der Wand noch ein paar Haken. Kann man hier etwa auch klettern? Nein, klärt der Bademeister auf, hier war früher die Leiter für den Sprungturm, der aus Sicherheitsgründen abgebaut wurde. Ende der 80er Jahre stand die gesamte Anlage kurz vor der Schließung. Die Becken sollten zugeschüttet werden – für einen Wanderparkplatz.
Erkunden lässt sich die steinerne Pracht der Fränkischen Schweiz auch von unten. Für einige der kleineren Höhlen wie das Hasenloch genügt etwas Vorsicht und eine starke Taschenlampe. Für die größte und schönste braucht es eine Eintrittskarte und einen Führer. Ein schmaler Pfad schlängelt sich hinein in die Eingeweide der Teufelshöhle, vorbei an Tropfsteinen, mehrere Hunderttausend Jahre alt, am Skelett eines Höhlenbären, schließlich bis zu 70 Meter tief in den Schoß der Erde.Karte
Der wahre Schatz der Teufelshöhle bleibt den meisten Besuchern allerdings verborgen. Gleich links hinter dem Haupteingang führt ein Nebenschacht in einen abgetrennten Bereich, der auf den ersten Blick unspektakulär wirkt: eine Reihe alter Liegestühle mit Unterlagen, Kinderspielzeug, ein Notfalltelefon. Ansonsten nur Stille und eine Temperatur von konstant 9 Grad. Die Luft hier drinnen gilt als besonders rein. Kein Staub, keine Pollen, keine Pilzsporen. Der ideale Ort zum Durchatmen.
Doch der Heilstollen von Pottenstein ist selbst bei den Einheimischen in Vergessenheit geraten. „Erst wenn der Enkel Asthma hat, erinnert sich der Opa wieder an die Höhle“, sagt Franz Macht, 59. Der Allgemeinarzt rührt seit fast 30 Jahren die Werbetrommel für eine Luftkur im Untergrund, die nicht nur Patienten mit chronischer Bronchitis helfen soll. Bislang mit wenig Erfolg. „Die Leute schlucken eben lieber Medikamente, als sich ein paar Stunden in eine kühle Kammer zu legen“, sagt Macht und träumt von Trimmrädern oder Nordic Walking durch die Höhle.
Ballsaal
Zurück an die Oberfläche. Nach getaner Arbeit sitzt Janine Ziermann im Stadtcafé von Pottenstein und gönnt sich ein Bananensplit. Ohne Sahne. „Viele denken, beim Klettern komme es auf die Kraft in den Armen und in den Fingerspitzen an“, sagt sie. „Dabei ist es eher wie eine Leiter hochkrabbeln: Man steigt mit den Füßen und hält sich mit den Händen fest.“
Am liebsten aber vergleicht Ziermann den Sport mit einer anderen Bewegungsform: „Das Schwere soll leicht aussehen, man tanzt über den Fels.“ So gesehen ist die Fränkische Schweiz ein einziger großer Ballsaal.