Finnland, Nation der 190.000 Seen. Und wenn der Finne mal keinen See hat, baut er sich einen. Zum Beispiel im Hafen von Helsinki: Eine durch Holzplanken geschützte Pool-Landschaft mit viel strahlend blauem Wasser wurde ins Hafenbecken eingelassen.
Der Hochsommer ist nach Helsinki gekommen. 32 Grad. Doch das verdirbt den Besuchern im „Allas Sea Pool“ nicht die Laune. Sie dampfen wie Trockeneis, als sie aus der Sauna auf die Holzterrasse treten. Locker gleiten sie ins Abkühlbecken. Das ist mit Ostseewasser gefüllt, im Sommer wie auch im Winter, wenn die Temperaturen auf minus acht Grad sinken und die Eisschollen durch den Hafen treiben. Abends mischt sich hier in der Bar ein lautes, trinkfreudiges Publikum aus Start-up-Hipstern, bärtigen Künstlern und Touristen.
Dabei hätte es diesen Ort gar nicht geben dürfen. „Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung“, sagt die Autorin Katja Pantzar, die regelmäßig dort schwimmt. Der denkmalgeschützte Präsidentenpalast steht direkt gegenüber. „Doch wir Finnen haben etwas, das wir Sisu nennen. Wir sind beharrlich und lassen uns nicht unterkriegen“, erklärt Pantzar, die mehrere Bücher über die Lebenskunst in ihrem Geburtsland geschrieben hat.
Finnen – die glücklichsten Menschen der Welt
Auch die Macher des Allas Sea Pool zeigten Sisu. Sie warben für ihre Idee und sammelten in der Bevölkerung 1,7 Millionen Euro ein. Zwei Jahre nach seiner Eröffnung steht das schwimmende Freibad nun symbolhaft für den Wandel, der Helsinki seit ein paar Jahren erfasst hat.
Laut einer Umfrage der Vereinten Nationen leben in Finnland die glücklichsten Menschen der Welt. Es war ein langer Weg zum Glück: Erst 1917 wurde das Land unabhängig. Davor hatte es über Jahrhunderte hinweg im Schatten des großen Bruders Schweden gestanden. Aber auch die späteren Besatzer aus dem russischen Kaiserreich sorgten nicht für Lebensfreude. Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein übte Russland einen großen Einfluss aus; bis heute versprühen einige Ecken Helsinkis herben Sowjetcharme.
Helsinki Alles muss raus_18.20
So sagt auch Katja Pantzar: „Bis vor wenigen Jahren herrschte hier eine erdrückende Bürokratie, die jeden Ansatz urbanen Lebens erstickte.“ Es gab kein Bürgertum, welches das kulturelle Leben prägte. Die Einwohner lebten oft zurückgezogen und verhielten sich wie Gäste in der eigenen Stadt.
Heute scheinen die Menschen wild entschlossen, das Los Helsinkis selbst zu bestimmen. Ein heruntergekommenes ehemaliges Gefängnis auf der Insel Katajanokka wurde zu einem Designhotel umgebaut. Und via Volksentscheid wurde jüngst eine Bahntrasse in einen Fahrradweg verwandelt, der nun durch die Innenstadt verläuft.
Helsinki – umringt von 300 Inseln
Als Radler ist man in Helsinki Mensch erster Klasse. Ein tadellos ausgebautes 1200 Kilometer langes Netz führt zu Orten wie dem Restaurant „Chapter“. Hier kocht Juho Ekegren, einer der Stars der jungen finnischen Küchenkultur. Der 25-Jährige verwendet gern Pilze, Wildpflanzen, Preiselbeeren und gelbe knuddelige Moltebeeren – das Gold unter den finnischen Wildbeeren. Um diese zu finden, stiefelt Ekegren regelmäßig tief in die umliegenden Wälder. „Ich lebe in der Stadt, habe aber einen unmittelbaren Zugang zu einer sehr urwüchsigen Natur“, sagt er.
Skateboarder toben sich auf Rollbahn ausAußerdem umringen Helsinki mehr als 300 Inseln, viele davon sind für Besucher zugänglich und mit Fähren schnell zu erreichen. Das hiesige Jedermannsrecht erlaubt es, dort zu sammeln und zu pflücken, was die Wälder hergeben. Daraus ist eine städtische Bio-Boheme entstanden. Katja Pantzar sagt: „Wir unterhalten uns nach dem Wochenende nicht übers Shoppen, sondern darüber, auf welcher Insel wir die schönsten Pilze gefunden haben.“ Die Finnen umarmen die Natur und tragen sie in die Stadt, wo im Sommer an jeder Ecke kleine Food-Trucks die landestypischen Wald-Gerichte anbieten.
Vielleicht auch jenen, die Hunger haben nach kulturellem Hochgenuss. Mehr als 80 Museen und viele Galerien zeigen finnische wie internationale Kunst.
Mit dem DJ Bunuel auf dem Rad unterwegs
Der Mann, der sich DJ Bunuel nennt, mag beide Welten: das graue, funktionale Nachkriegs-Helsinki und das neue aufgedrehte der Kreativen. Seit 56 Jahren wohnt er hier. Eine Legende des Nachtlebens. Wer mit ihm durch die Stadt radelt, der kommt nicht weit; jeder Zweite grüßt oder umarmt ihn.
helsinki-bike
DJ Bunuel weiß auch, wo das alte, melancholische Finnland überlebt hat. Er lädt in die dunkle, verrauchte Corona-Bar des Filmemachers Aki Kaurismäki, einen Ort, an dem die Männer sich noch in sechs Sprachen vor ihren Biergläsern anschweigen. Auf seinen Reisen durch die Welt hatte Kaurismäki einst mitbekommen, dass in den Kneipen anderer Länder Snacks angeboten werden. Diese kleine Neuerung reichte vor 30 Jahren, um seinen Laden zur Kultstätte zu machen.
Noch am späten Sommerabend brodelt auf den Straßen von Helsinki das Leben. Einige Jungs sitzen auf einer Picknickdecke im Stadtpark Esplanadi und haben Weinflaschen geöffnet. DJ Bunuel lehnt sich über sein Fahrrad und schaut zu ihnen hinüber. „Früher konnte ich am Äußeren der Leute erkennen, was sie für Musik hören wollen. Heute ist alles bunt und mischt sich“, sagt er. Ihm gefällt das. Er hat lange darauf gewartet, dass seine Stadt zum Leben erwacht.
Aber etwas ungewohnt ist es schon, dieses neue Helsinki. „Es gibt im Finnischen für alles ein Wort. So wie Kalsarikännit, was so viel bedeutet wie: allein zu Hause in Unterhose herumsitzen und Bier trinken“, sagt DJ Bunuel. Er findet, man brauche jetzt dringend ein Wort, welches das neue Helsinki beschreibt. Etwas, das so viel bedeutet wie: mit einer App bei strahlendem Sonnenschein auf einer Insel Moltebeeren sammeln.
+++ Lesen Sie auch: „Helsinki Airport – Skateboarder toben sich auf Rollbahn aus“ +++