Wer Dr. Martin Grunwald trifft, wird mit einem Händedruck begrüßt. Nicht zu stark und nicht zu schwach. „Alte Ossi-Tradition“, sagt der gebürtige Leipziger lächelnd. Im Westen sei das Händeschütteln deutlich weniger verbreitet. Auch mit seinen Mitarbeitern pflegt Grunwald diese Tradition: morgens und abends ein Händedruck, das schafft Nähe und Verbindung. Schließlich verbringt man den ganzen Tag miteinander im Labor. „Berührungen kommen im Alltag viel zu kurz“, sagt der 52-Jährige. „Mich überrascht es nicht, dass Menschen zu Kuschelpartys gehen oder sich aufwendige Massagen gönnen. Wir alle haben ein starkes Bedürfnis, berührt und gestreichelt zu werden.“
Der Psychologe ist Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Universität Leipzig. Zu der Einrichtung gehört eine Werkstatt – ein kleiner, dunkler Raum im Untergeschoss der medizinischen Fakultät, bestens ausgestattet mit Werkzeugen: Bohrmaschinen, Sägen, eine Fräsmaschine, eine Drehbank, ein 3-D-Drucker, dazwischen Computerbildschirme. „Wir bauen alle Geräte, die wir entwickeln, selbst“, sagt der Wissenschaftler. Sein Labor wurde 1996 gegründet und ist einzigartig in Europa: Grunwald forscht für die Medizin, aber auch für die Industrie. So machen der Psychologe und sein Team sich beispielsweise Gedanken darüber, wie die optimale Struktur eines Autositzes beschaffen sein muss, damit der Fahrer gern mehrere Stunden darauf sitzt, je nach den speziellen Vorstellungen des Herstellers: hart, weich, glatt, rau, leicht verformbar, leicht erwärmbar, feuchtigkeitsabweisend – es gibt Hunderte von Varianten.
Gesund Leben Teaser Heft 5Doch welche Rolle spielt der Tastsinn eigentlich für uns Menschen? Senden die anderen Sinnesorgane – Augen, Ohren, Nase und Mund – nicht viel mehr Informationen als die Haut?
Grunwald muss sich häufig solche Fragen anhören. Und für den Tastsinn eine Lanze brechen, der, wie er sagt, „nicht zu den Top-Themen in der Medizin“ gehört. „Ohne den fünften Sinn würden wir nicht einmal merken, dass wir gerade auf einem Stuhl sitzen oder unsere Füße auf dem Boden aufliegen. Würde er fehlen, könnten wir nicht überleben, hätten kein Gefühl für uns selbst. Es gibt Menschen, die blind und taub zugleich geboren werden, aber ohne einen funktionierenden Tastsinn kommt niemand auf die Welt.“
Während der Fötus im Mutterleib heranwächst, wird die Gebärmutter immer enger und umschließt ihn fest. Das ist ein Grund, warum das Gespür für Kontakt beim Neugeborenen so stark ausgeprägt ist. „Wir brauchen Berührungen zudem für unser Immunsystem“, sagt Grunwald. Sie können etwa die körpereigenen Abwehrkräfte stärken oder weniger anfällig für Erreger machen.
Was genau passiert in unserem Körper, wenn wir gestreichelt oder umarmt werden?
„Das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin wird ausgeschüttet, unser Blutdruck sinkt, die Herzfrequenz nimmt ab, die Konzentration des Stresshormons Cortisol wird geringer“, sagt Grunwald. Dadurch entstehe eine Entspannungsreaktion, die sich wiederum positiv auf das Immunsystem auswirke. „Mithilfe von immunologischen Markern im Blut können wir nachweisen, dass sich das Immunsystem nach intensiven Berührungen stabilisiert und entzündungshemmende Prozesse beschleunigt werden“, erklärt Grunwald. Studien haben gezeigt, dass bereits eine kurze Umarmung von 20 Sekunden unter Partnern dazu führt, dass der Blutdruck deutlich sinkt. „Unser Körper hat seine eigene Apotheke – und sie hat keine schädlichen Nebenwirkungen.“
Grunwald ist ein Forscher, der sich für sein Thema begeistert und es mit Leidenschaft vorantreibt. Vor Jahren machte er Schlagzeilen mit einer ungewöhnlichen Idee: Er verordnete Magersüchtigen maßgeschneiderte Neoprenanzüge. Durch den Kontakt zu dem eng anliegenden Material sollten Patientinnen, die sich in gefährlicher Weise für zu dick halten, eine wirklichkeitsnahe Körperwahrnehmung erlernen. Grunwalds Konzept zeigte Wirkung und wird nun von mehreren Kliniken in der therapeutischen Arbeit eingesetzt.
Warum berühren wir uns selbst so häufig?
Berührung 10.03Weshalb fasste sich Joachim Löw während der Deutschland-Spiele der WM ständig an die Nase? Wieso strich sich Angela Merkel über den Haaransatz, als ihr bei einem IT-Gipfel das Wort „Festnetz“ nicht einfiel? Warum reibt sich die Kassiererin im Supermarkt, bevor sie das Wechselgeld herausgibt, kurz das Kinn? In aufwendigen Versuchen haben Grunwald und sein Team herausgefunden, dass die Selbstberührungen im Gesicht eine psychologische Funktion haben: „Zum einen werden dadurch sehr positive oder sehr negative Emotionen auf ein mittleres Maß geregelt, wir können uns selbst beruhigen“, sagt er. „Zum anderen helfen die Berührungen, Gedächtnisinhalte zu reaktivieren, die in Gefahr sind, verloren zu gehen. Ich unterhalte mich mit jemandem, ein anderer kommt in den Raum gestürmt und stört das Gespräch. Mein Arbeitsgedächtnis wird belastet, ich verliere den Gesprächsfaden. Für Rettungsmaßnahmen, um also den Faden wiederzufinden, sind solche Selbstberührungen zuständig.“ Und daran besteht recht häufig Bedarf: Bis zu 800-mal am Tag fasst sich jeder Mensch unbewusst ins Gesicht.
Aber in Zukunft will der Psychologe noch mehr herausbekommen: Macht es einen Unterschied, ob wir uns mit der linken oder rechten Hand berühren, ob wir die rechte oder die linke Gesichtshälfte anfassen? Was sagen diese Berührungen jeweils aus? Auch für Mediziner, die Therapien durchführen, könnten die Ergebnisse aufschlussreich sein. Menschen, die unter Ängsten oder Depressionen leiden, berühren sich besonders häufig im Gesicht – Politiker dagegen versuchen, das möglichst zu vermeiden. „Wenn sich jemand ins Gesicht fasst, wird das gemeinhin als Schwäche interpretiert. Frau Merkel ist Weltmeisterin im Unterdrücken von Gesichtsberührungen. Dafür hat sie aber die Raute, mit der sie sich stabilisieren kann. Barack Obama dagegen war als Präsident sehr aktiv mit Selbstberührungen und konnte dadurch offenbar Emotionen regulieren.“
Im Alltag lässt sich oft Ähnliches beobachten: Sei es der Kollege, der sich die Wange massiert, wenn er angestrengt nachdenkt, oder die Freundin, die sich über die Haare streicht, wenn sie verlegen ist. Es scheint, als sei ein bestimmtes Repertoire an haptischen Beruhigungsmitteln in uns angelegt.
Wonach greifen wir, wenn wir uns nicht selbst berühren?
Nach dem Smartphone, unserem wichtigsten Tool überhaupt. „Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, etwas in den Händen zu halten bzw. mit den Händen etwas zu verändern“, sagt Grunwald. „Das Smartphone schmeichelt unserem Bedürfnis nach Oberflächenglätte.“ Der Psychologe nimmt einen Gegenstand in die Hand, der auf seinem Schreibtisch liegt: einen Fidget Spinner, eine Art Handkreisel. Man hält mit Daumen und Zeigefinger die Achse fest und dreht ihn wie ein Schwungrad – einfach so, weil es sich gut anfühlt, es vibriert auch ein bisschen.
Psyche Tipps_20.15Glatte Oberflächen gefallen dem Tastsinn besser als raue. Auch deshalb sind beispielsweise Haushaltsgeräte heute oft geschmeidig. Selbst die Oberfläche des Menschen wird immer glatter: Viele rasieren regelmäßig den Körper, doch das kostet sie mehr als die Ausgaben für Doppelklingen und Rasiergel. „Mit der Rasur nehmen wir in Kauf, dass unsere Sensibilität für Berührungen abnimmt“, sagt Grunwald. Denn die fünf Millionen Haare auf unserem Körper sind wie Antennen für Berührungsreize, die Rezeptoren in den Haarfollikeln sind extrem sensibel. Wenn die Haare fehlen, ist die Empfindlichkeit etwas geringer.
Martin Grunwald sieht sich nicht nur als Wissenschaftler, der im Labor forscht, sondern er begreift sich als Aufklärer: Leute, berührt euch, streichelt euch – diese Botschaft will er rüberbringen. „Bei vielen langjährigen Paaren gibt es morgens einen Kuss, danach die Umarmung zum Abschied in den Tag, und abends dieselben Rituale noch mal in umgekehrter Reihenfolge. Das führt zu einer durchschnittlichen Körperkontaktdauer von nicht mal fünf Minuten am Tag.“ Und dann wunderten sich Paare, wenn es mit dem Sex nicht läuft. „Viele Männer glauben, Kuscheln sei für Kinder, sie fühlen sich unzulänglich, wenn es beim Streicheln bleibt. Dabei bringen sie sich um ein Vergnügen, das eine positive Wirkung auf ihren Körper hat.“
Besonders ältere Menschen leiden häufig unter einem Mangel an Nähe und Berührung – umso mehr, wenn der Partner gestorben und der Kontakt zu den Kindern distanziert ist. In der Pflege werde daher zunehmend Berührungen eingesetzt. „Die Leistung ihres Tastsinnes lässt zwar nach, aber das macht sie nicht weniger empfänglich für Berührungen“, sagt Grunwald. Seine Mutter leide stark unter Demenz, und das Beste, was er ihr geben könne, sei, sie fest zu umarmen und zu halten. „Es ist nicht klar, ob sie mich erkennt. Aber ich weiß, dass sie bis zum Schluss in der Lage sein wird, Berührungen wahrzunehmen.“
Ein tröstlicher Gedanke. „Schon eine kurze Umarmung kann positive Gefühle auslösen, die Stunden oder sogar Tage andauern.“ Für diesen schönen Satz möchte man ihn eigentlich mal drücken.