Wann wird ein Hobby zur Sucht, eine Leidenschaft zum Problemfall? Digitale Medien und soziale Netzwerke üben eine gefährliche Macht aus – sie können besonders das Leben von Jugendlichen und Kindern kapern. „Gefährdet sind Kinder, deren Eltern sich nicht einmischen“, sagt Professor Rainer Thomasius dem stern. Der Experte für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg ist überzeugt, dass Internetspiele für Heranwachsende förderlich sein können – Eltern aber wachsam sein sollten.
Suchtforscher Rainer Thomasius: „Setzen Sie Grenzen“
Professor Thomasius, läuft im Grunde jeder, der leidenschaftlich Internet-Spiele spielt, Gefahr, süchtig zu werden?
Professor Rainer Thomasius: Nein, sicher nicht. Internetspiele können strategisches Denken, Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit fördern und die Phantasie, ja sogar soziales Engagement anregen. Sorgen machen wir uns dann, wenn dem Jugendlichen die Kontrolle über Spielzeiten verloren geht, andere Interessen und Verpflichtungen unbedeutend werden oder wenn Schulleistungen nachlassen. Gefährdet sind vor allem Jungen, die in den Internet-Spielen einen Ersatz für etwas suchen, das ihr Lebensalltag nicht hergibt – Anerkennung, Selbstbestätigung und das Gefühl, das Geschehen zu bestimmen anstatt bestimmt zu werden.
Gerade für Eltern ist es schwer zu ertragen, dass ihre Kinder Stunden wie angefixt vom Internet sind. Was ist harmlos? Was gefährlich?
Die meisten Kinder reflektieren, wenn Freundschaften und Hobbies durch übermäßige Beschäftigung mit dem Internet zu kurz kommen und sie sind dankbar, wenn Eltern sie zu medienkompetenten Anwendern erziehen. Gefährdet sind Kinder, deren Eltern sich nicht einmischen. Unsere Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der Eltern sich nicht mit ihren Kindern über die zeitlichen Kontingente auseinandersetzt. In einem Drittel der Haushalte erfolgt keine Verständigung über die Inhalte von Internetzugängen. Wenn Kinder viel zu früh und ohne Begleitung dem Netz überlassen werden, dann droht, dass sie dort verloren gehen.
Es gibt Therapeuten, die sagen: Psychisch stabile Jugendliche sind nicht gefährdet. Adam Alter erzählt in seinem Buch von einem psychisch stabilen Jugendlichen, der eines Tages Windeln trug, um ohne Unterbrechung spielen zu können. Was stimmt?
Beide haben Recht. Psychische Stabilität und soziale Integration schützen vor Suchtentwicklung. Ich habe in 32-jähriger Berufstätigkeit mit suchtgefährdeten und süchtigen Kindern und Jugendlichen kaum einen Fall erlebt, wo ich den Eindruck gewonnen hätte, dieser Jugendliche ist psychisch stabil und beliebt und trotzdem süchtig. Groß angelegte Studien zeigen uns aber, dass Instabilität bei einem Drittel aller Heranwachsenden zumindest vorübergehend vorhanden ist. Denen nicht angemessen zu helfen, die eine Sucht nach Internet-Spielen und sozialen Netzwerken entwickeln, wäre aus therapeutischer Sicht fahrlässig, denn im Falle einer Suchtentwicklungen drohen Isolation, Ausgrenzung und Stigmatisierung. In Bildungsinitiativen und Gesundheitsförderung müssen daher die Suchtgefahren durch das Internet viel stärker als bisher berücksichtigt werden. Prävention und Hilfen müssen, orientiert an den Entwicklungsphasen des Kindes- und Jugendalters, dringend gestärkt werden.
Die wenigen Untersuchungen, die es bisher zur möglichen Abhängigkeit von Internetspielen oder Sozialen Medien gibt, kommen zu dem Schluss, dass auffallend oft Depressionen damit einhergehen. Was war zuerst? Die Depression oder die Sucht?
Auch hier sind beide Entwicklungswege denkbar. Enttäuschte Jugendliche sind besonders anfällig für exzessive Nutzungsformen. Mädchen mit einem negativen Selbstbild und starken Gefühlsschwankungen, mit Minderwertigkeitsgefühlen und dem vorherrschenden Gefühl, unpassend zu sein, können dazu neigen, sich in idealisierter Art und Weise in sozialen Foren darzustellen. Anerkennung, die sie hier erfahren kann süchtig machen, aber auch depressiv weil es ja nur um den Schein geht und nicht wirklich um sie.
Was raten Sie verunsicherten Eltern?
Wir raten Eltern, so viel Anleitung zu geben und Interesse zu zeigen wie möglich. Seien Sie informiert über Spielinhalte, Anwendungen sozialer Netzwerke und Zugangs- und Zeitbeschränkungen. Zeigen Sie Interesse an Spielmotiven Ihres Kindes, setzen Sie Grenzen und bieten Sie Alternativen für eine ausgewogene Freizeitgestaltung mit positiven Erlebnissen und Möglichkeit zur aktiven Stressbewältigung an. Und sorgen Sie für medienfreie Zeiten und Räume für die ganze Familie!