Hirschhausen fragt nach: Depressionen und Einsamkeit: Schadet das Stadtleben unserer Psyche?

Herr Adli, vor vier Monaten brach ein Jogger in einem Park in Berlin zusammen. Er ist immer noch bewusstlos, erst vergangene Woche konnte seine Identität geklärt werden. Offenbar gab es niemanden, der den Läufer vermisst hat. Wo ist man einsamer: auf dem Land oder in der Stadt?

Stadtbewohner haben ein größeres Risiko, sich einsam zu fühlen. Das klingt erst mal unlogisch. Aber einsam fühlt man sich, wenn man von Menschen umgeben ist und dabei das Gefühl hat, nicht dazuzugehören. Um sich einsam zu fühlen, braucht man andere Menschen um sich herum. Wenn wir mutterseelenallein einen Spaziergang durch den Wald machen, fühlen wir uns in der Regel nicht einsam. In ländlichen Gemeinschaften gibt es oft stärkere
soziale Unterstützungsstrukturen, auch wenn die Menschen vielleicht weiter voneinander entfernt wohnen. In einer Jeder-kennt-jeden-Gesellschaft wachsen meist starke Verbindungen. Allerdings gilt das vor allem für Mitglieder der Gemeinschaft. Wer von außen neu dazukommt, findet manchmal nur schwer Zugang.

Macht Einsamkeit krank?

Mazda Adli TeaserEindeutig. Einsamkeit zu empfinden ist für so gut wie jeden Menschen quälend. Wir sind soziale Wesen. Unser Überleben hängt, evolutionär gesehen, davon ab, dass wir mit anderen kooperieren und auf Unterstützung hoffen können. Wenn wir kein soziales Netz haben, das uns auffängt, fühlen wir uns einsam. Einsamkeit ist eine Art Seelenschmerz, ein Alarmsignal, das man empfindet, wenn man sozial isoliert ist. Und soziale Isolation ist einer der wesentlichsten Krankmacher. Das gilt für psychische wie für körperliche Krankheiten. Bluthochdruck, erhöhte Blutfette, Schlafstörungen oder Depressionen können die Folgen sein. Einige große Untersuchungen der letzten Jahre zeigen: Soziale Isolation belastet unsere Gesundheit stärker als moderates Rauchen, Alkoholmissbrauch und Übergewicht.

In der Berliner U-Bahn zu fahren gleicht einem Praktikum in der offenen Psychiatrie. Gibt es mehr psychisch Kranke in Städten – oder fallen die nur mehr auf?

In der Berliner U-Bahn sieht man einfach viele Menschen auf begrenztem Raum. Da ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auf ungewöhnliche Zeitgenossen zu treffen. Und Berlin hat vielleicht schon immer die schrägen Vögel eher angezogen als zum
Beispiel München. Aber man kann auch ganz klar feststellen: Stadtbewohner haben ein größeres Risiko für mehrere psychische Krankheiten. Das Depressionsrisiko ist beispielsweise anderthalbmal so groß im Vergleich zu Landbewohnern. Noch deutlicher fällt der Unterschied bei der Schizophrenie aus. Wer in der Stadt wohnt, hat ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko. Wer in der Stadt aufgewachsen ist, sogar ein nahezu dreimal so hohes Risiko.

Sind „Landeier“ seelisch stabiler?

So einfach ist das nicht. Wenn sie als Landbewohner in eine seelische Krise geraten, kann professionelle Hilfe zuweilen ganz
schön weit entfernt sein. Versuchen Sie dann mal, einen freien Psychotherapieplatz zu finden. Das geht meist nicht ohne monatelanges Warten. Wer in der Stadt lebt und aufwächst, hat nicht nur leichteren Zugang zur Gesundheitsversorgung, sondern findet auch ein reicheres Bildungs- und Förderungsangebot, mehr Chancen auf Wohlstand und eine große Vielfalt an kulturellen Angeboten.

Der Megatrend weltweit sind Städte. Wie kann die Planung heute dafür sorgen, dass Stadtleben gesünder wird?

Stadt versus Land TeaserDa stehen wir tatsächlich vor einer Jahrhundertaufgabe. 1950 lebte noch knapp ein Drittel der Menschen weltweit in Städten. Heute sind es etwas mehr als 50 Prozent, 2050 werden es nach Schätzung der Vereinten Nationen zwei Drittel der Menschheit sein. Es ist höchste Zeit, herauszufinden, wie sinnvolle Prävention von psychischen Erkrankungen aussehen kann. Dabei gilt: Alles, was sozialem Stress entgegenwirkt, hilft und macht einen lebenswerten städtischen Raum aus. Dazu gehören öffentliche Plätze, auf denen die Menschen gern Zeit miteinander verbringen. Je mehr attraktiver öffentlicher Raum vorhanden ist, der auch von den Leuten genutzt wird, desto mehr können sich Unterstützungsstrukturen zwischen den Menschen bilden. Das wirkt sozialer Isolation entgegen.

Wie erklärt ein Psychiater, dass bei „Dieselgate“ alle so tun, als ginge es um ein Kavaliersdelikt? Kaum einer spricht darüber, dass Autos töten – vor allem die idiotischen Geländewagen, die nie ein Gelände sehen, aber dafür sorgen, dass ein Mensch über eine Tonne Stahl durch die Gegend wuchtet. Die Bauart der SUVs erschwert bei einem Aufprall ein Abrollen der Fußgänger. Und sie töten nach hinten raus durch unnötige Abgase. Woher kommt dieser bekloppte Trend?

Es ist in der Tat eine bizarre Entwicklung der letzten Jahre, sich in unseren enger werdenden Städten mit immer größeren Autos zu umgeben, die allen anderen auch noch den letzten verbleibenden Platz wegnehmen. Es gibt offenbar das neue Bedürfnis nach Sicherheit und Knautschzone gegen eine unberechenbare Welt da
draußen. Wir stellen seit Jahren fest, dass die Menschen subjektiv das Gefühl haben, die Welt um sie herum werde unsicherer. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Kriminalstatistiken gehen kontinuierlich herunter und auch das Risiko, in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden ist heute niedriger als noch in den 1970er Jahren. SUVs sind für mich Ausgeburten der Angst, so etwas wie Katastrophendenken auf Rädern.

Die dreckige Luft, der Lärm, die Dichte in der U-Bahn und die Einsamkeit im Hochhaus: Was weiß man über das Zusammenwirken von Stressfaktoren?

In der Stadt gibt es vieles, was uns stresst oder auf die Nerven geht: Lärm, Dreck und Betriebsamkeit. Aber das macht uns noch lange nicht krank. Unsere psychische Gesundheit wird vor allem durch sozialen Stress belastet, der aus dem Zusammenleben von Menschen auf begrenztem Raum erwächst. Wir nehmen an, dass die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation uns krank macht. Die entsteht dort, wo es eng ist, wo jemand wenig Privatfläche oder Rückzugsraum hat und gleichzeitig einsam ist. Besonders kritisch wird es, wenn man das Gefühl hat, dem sozialen Stress ausgeliefert zu sein und nichts an seiner Situation ändern zu können. Auch andere Stressoren, wie zum Beispiel Lärm, können zu sozialem Stress werden und unsere psychische Gesundheit belasten, nämlich dann, wenn unangenehmer und lauter Lärm zu territorialem Stress wird, leicht durch unsere vier Wände dringt und damit unser „Revier“ infrage stellt.

Gegen manche Vorliebe der Nachbarn hilft auch keine Doppelverglasung. Wie halten Sie sich in Berlin gesund?

Ich singe sehr gern. Und häufig. Vor vielen Jahren habe ich die „Singing Shrinks“ gegründet, den einzigen Psychiaterchor der Welt. Singen hilft mir, Stress abzuschütteln und entspannt Seele und Körper. Man atmet ruhig und tief und lockert die Muskeln. Außerdem gehe ich so oft es geht ins Theater. Schon dieser plüschig-staubige Geruch des Theaterparketts hat eine absolut erholsame Wirkung auf mich. Und ich gehe regelmäßig laufen, an der Spree entlang und durch den Tiergarten. Dass die Stadt Berlin um mich herum sich über eine gigantische Fläche ausdehnt, die eineinhalbmal so groß ist wie Mumbai und neunmal so groß wie Paris, vergesse ich dann glatt.