Zu viel Danziger Goldwasser getrunken. Das wäre eine Erklärung für meine kurze Verwirrtheit: Hat die Hafenstadt an der Ostsee den Krieg vielleicht doch heil überstanden? Hat sie natürlich nicht. Kein Reiseführer, der nicht ihren Wiederaufbau preist. Und vom Likör hab ich bislang die Finger gelassen. Aber der erste Blick wandert an täuschend echten Barock- und Renaissancebauten der Rechtstadt entlang, des historischen Stadtkerns südlich der Altstadt. Beim Rundgang streift er Kunstwerke der Backsteingotik, Erker, Stufengiebel und Stadttore, gleitet über historische Höfe vermögender Hansekaufleute. Im Moment sonnen sich Dächer und Kuppeln der Stadt auch noch im warmen Goldton von Bernstein, der so reichlich an ihren Stränden zu finden ist.
Alles sieht wohl aus wie früher, mögen manche Besucher denken, aber nichts ist, wie es war. Fast komplett lag Danzig bei Kriegsende in Trümmern, aber das leidgeprüfte Polen begann schon kurz danach mit dem detailgetreuen Wiederaufbau.
Die meisten architektonischen Wunderwerke stammen aus dem „Goldenen Zeitalter“ ab dem 16. Jahrhundert. Als sie mit ihrem florierenden Ostseehafen die reichste und multikulturellste Stadt Polens war, als sie Bürger aus ganz Europa beherbergte: Russen und Franzosen, Schotten, Italiener und Holländer.
350 Kilometer nördlich von Warschau
1871 verleibte sich das Deutsche Reich Danzig ein. Und obwohl der Versailler Vertrag es nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als Freie Stadt vom Reich abtrennte und unter Aufsicht des Völkerbundes stellte, lebten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich Deutsche hier – so wie Günter Grass und die fiktive Familie seines kleinen Blechtrommlers Oskar. Bis in einer Art Völker-Rochade die Deutschen flohen und heimatvertriebene Polen aus dem Osten des Landes sich in Danzig niederließen.
Nur wenige Fußminuten hinter dem polierten historischen Kern beginnt das sperrigere Danzig einer jüngeren Vergangenheit. Das, auf dessen Werften die Freiheitsbewegung Solidarność begründet wurde. Das sich auch dank eines engagierten Bürgermeisters noch heute als Bastion der Liberalität definiert, je weiter die Regierung, größtenteils gebildet von der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ im 350 Kilometer entfernten Warschau nach rechts rückt. Die Stadt, die in ganz Polen für ihre Willkommenskultur für Flüchtlinge und einen Hang zu zivilem Widerstand bekannt ist.
Ensemble mit Schiffscontainern
Holprige Gehsteige mäandern, eskortiert von riesigen Kränen, durch Brachland entlang alter Hallen und Zäune, einer führt zum Kulturzentrum 100cznia. Etwa 20 Schiffscontainer stehen dort, zusammengeschoben zu einem Hufeisen. Auf den Dächern wehen Fähnchen, unter den Sonnensegeln gruppieren sich Liegestühle und kleine Tische. Garküchen verbreiten das Aroma von Knoblauch und Käse. In den Containern sind kleine Shops und Galerien untergebracht. Vor einer Bar sitzen junge Leute unter Sonnenschirmen, trinken Bier und Limonade.
Ausgedacht haben sich dieses heitere Ensemble Alicja Jabłonowska und ihr Mann Kuba Łukaszewski – der eigentlich anders heißt, aber die karibische Insel so cool findet, dass er sie als Spitznamen adoptierte. Vor ein paar Jahren kauften die beiden die Container und verpachten sie nun. „Eine Plattform. Jeder kann hierher kommen und seine Ideen verwirklichen“, erklärt Kuba. „Bleib doch zum Essen“, schlägt er vor und zeigt auf eine wagenradgroße Pfanne, die in der Mitte zwischen den Containern über dem Feuer steht.
Darin brutzeln Gemüse und Nudeln. Immer mehr Menschen stapfen über den weißen Sand. Familien mit Kindern, einige Späthippies, junge Frauen in Birkenstock-Sandalen. „Ist es jeden Tag so voll hier?“, erkundige ich mich. „Meistens nur am Wochenende“, wehrt Kuba ab und reicht einen Teller mit Pasta herüber. Das Koch-Event heute sei Teil der städtischen Kampagne „Łączy nas Gdańsk“, „Danzig verbindet uns.“ Alicja schenkt mir ein Glas schäumendes Bier ein. Die Veranstaltung solle Bürger verschiedener Nationen zu gemeinsamem Essen zusammenbringen, sagt sie. „In Danzig sind Bürgerbewegungen alles.“
Woher der Eigensinn der Menschen kommt? Warum gerade hier 1980 die Solidarność entstehen konnte? „Weil die neuen Bürger Fremde waren“, diagnostizierte einst der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin: „Die Arbeiterproteste schweißten die atomisierte Gesellschaft zu einer Gemeinschaft zusammen, die langsam ihre eigene Identität und Kraft fand.“
Ein ukrainischer Kinderchor stimmt ein Lied an. Als ich den Herrn neben mir, der an seiner Cola saugt, frage, ob er auch Teil dieser Bürgerbewegung sei, stellt sich dieser als der ukrainische Botschafter vor. „Zum ersten Mal in Danzig?“, fragt er. Ich nicke. „Wunderbare Stadt“, sagt er. „Schon in Wrzeszcz gewesen?“