Ellas Blick ist unsicher, sie ist ein wenig blass. Dort, an dem kleinen Tisch in einer bescheidenen Berliner Küche, erzählt sie ihre Geschichte. Eine Geschichte, die anfängt mit Erfolgen und Lob. Eine Geschichte, die in sozialer Isolation und einem Leben aus Zwängen endet. Ella litt an Orthorexie, der krankhaften Sucht nach gesundem Essen. Auf Wunsch wurde ihr Name geändert.
Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren
Angefangen hat alles, als Ella merkte, dass das Studium nicht ihren Erwartungen entspricht. Sie hat Betriebswirtschaftslehre studiert, ist heute 24 Jahre alt. Damals, erzählt sie, hatte sie das Gefühl, die Kontrolle über ihre Lebensplanung zu verlieren. Plötzlich besteht ihr Alltag mehr aus Pauken als aus wahrer Begeisterung fürs Studium. Spannende Projekte? Mitreißende Vorlesungen? Fehlanzeige. Alles, was sie macht, ist lernen. Gute Noten schreiben. Funktionieren. Soziale Netzwerke lenken sie ab, bringen sie auf neue Gedanken. Wenn sie abends ausgeht, dann richtig – oft betrinkt sie sich, übertüncht das frustrierende Gefühl, bei den Jungs keinen Anklang zu finden, nicht hübsch genug zu sein.
Zum Frühstück einen Liter grünen Tee, das regt die Verdauung an. Dazu eine Schale mit Magerquark und 20 Gramm Haferflocken. Mühsam wandert ein halber Teelöffel der Flocken wieder in die Packung. Bloß nicht zu viel. Genau 20 Gramm müssen es sein. Dekoriert wird alles mit fünf Himbeeren, einem halben Apfel, drei Mandeln.
Ella flüchtet sich in eine Diät. Schönere Haut möchte sie haben und einen definierteren Körper. Der Anfang ist harmlos: keine Süßigkeiten, mehr Gemüse, ab und an Sport. Dann sieht sie erste Erfolge. Mit der Bestätigung von außen kommt ein immer größerer Ehrgeiz von innen. Ella gewinnt ihre Energie zurück. Sie hat etwas gefunden, worauf sie sich konzentrieren kann. Gesund essen, darin ist sie gut. In ihr wächst das Gefühl, das Leben wieder im Griff zu haben. Orthorexie Info
Planung und Perfektionismus um jeden Preis
Die Unzufriedenheit mit dem Studium wird nebensächlich. Neue strukturierte Essgewohnheiten geben ihrem Leben einen Sinn. Sie setzt sich mit gesunder Ernährung auseinander. Erstellt Listen. Was kann sie noch essen, was nicht? Chia-Samen, gesunde Proteine, bloß kein Weißmehl. Immer strenger werden ihre Ernährungspläne. Immer strikter hält sie sich an Regeln und Verbote. Morgens steht sie eine Stunde früher auf, um vorzukochen. Um jeden Preis vermeidet die junge Studentin etwas Unbekanntes oder gar Ungesundes zu essen. Planung und Perfektionismus lautete die Devise. Heute kann die 24-Jährige darüber nur noch den Kopf schütteln.
Eine halbe Gurke in Scheiben. Dazu ein Viertel Paprika. Nicht die rote, nicht die gelbe. Nein, es soll die grüne sein. Die ist noch etwas gesünder, hat etwas weniger Zucker. Als Dip ein Esslöffel Hummus. Selbstgemacht, ohne Öl, ohne Gewürze.
Sie zieht sich ins Netz zurück, sucht nach mehr Informationen. Stundenlang surft sie durch Hashtags wie cleaneating und healthyliving. Schreibt sich auf, was gut für die Haut, die Verdauung, das Immunsystem ist. In jeder freien Minute guckt sie „What I eat in a day“-Videos. Orientiert sich an Foodbloggern. Bald schon startet Ella ihren eigenen Foodblog auf Instagram: „Stundenlang habe ich mein Essen vorbereitet, kein Salz und kein Öl verwendet, als Beilagen puren Reis oder Nüsse genommen. Bei Schokolade nur die vegane Variante, Brot nur aus Dinkel oder Vollkorn“, berichtet sie. Mühsam schneidet sie Herzchen aus Apfelstücken, steckt ihre volle Aufmerksamkeit in die Ästhetik ihrer Gerichte. Ella
„Ich definierte mich nur noch über den Gesundheitsgrad meiner Mahlzeiten“
Ihre Gedanken drehen sich nur noch ums Essen. Jedes Gespräch endet in Ernährungsthemen. Jedes Kochbuch wird akribisch durchgearbeitet. Tatsächlich träumt Ella sogar nachts von Ernährungsplänen, gibt sie beschämt zu. Akkurat durchgeplant, mehr als gesund. Um Genuss geht es nur noch selten, um Erfolg dafür umso öfter. „Ich definierte mich über den Gesundheitsgrad meiner Mahlzeiten. Je gesünder sie waren, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es in Ordnung ist, wenn ich esse. Dass es in Ordnung ist, was ich tue“, erzählt Ella. Das schlechte Gewissen wird immer häufiger, gibt ihr das Gefühl, perfekt sein zu müssen.
Zum Mittagessen 350 Gramm Kartoffeln. Nach dem Schälen wird noch einmal zur Kontrolle gewogen. 320 Gramm. Eine halbe Kartoffel landet im Müll. 300 Gramm. Dazu ein Kopf Brokkoli, ohne Salz im Ofen gebacken. Als Soße Magerquark mit Wasser und Schnittlauch, genau 100 Gramm. Dazu ein Liter Wasser mit 50 Milliliter naturtrübem Apfelsaft.
Kranke Generation Blog_15UhrDas Studium leidet darunter nur bedingt. Lernen tut Ella weiterhin. Noch bessere Noten, noch länger in der Bibliothek, noch bessere Leistungen als der Rest. Am Anfang hat keiner etwas gemerkt, erinnert sich Ella. Normalgewichtig war sie immer, etwas gegessen hat sie auch. Sie ernährt sich eben gesund. Freunde haben sie gelobt, teilweise sogar bewundert. Ella entspricht einem Ideal: gesunde Ernährung, gesundes Leben, kein Alkohol, kein Zucker. Dass sie krank ist, ist ihr damals noch nicht klar.
Soziale Isolation und hoher Leidensdruck
Als sie zurück an die schwere Zeit denkt, wird Ellas Stimme brüchig: „Ich hatte panische Angst vor ungesundem Essen und verarbeiteten Lebensmitteln. Ich dachte, ich würde krank werden, sollte ich mich nicht gesund genug ernähren.“ Schleichend passiert es, dass sie regelmäßig Freunden absagt. Bloß nicht in die Situation kommen, ungesund essen zu müssen. Nur noch selten trifft sie sich spontan mit Freunden, Absagen werden immer häufiger zu Lügen: Sie hat schon gegessen, trifft sich später mit Freunden zum Essen oder hat schlichtweg keinen Hunger. Stattdessen steht Ella zu Hause stundenlang in der Küche. Sie wiegt Gemüse und Kohlenhydrate ab, kocht Mahlzeiten im Voraus, plant akkurat ihre Speisepläne. Am liebsten geht sie einkaufen. Lange steht sie dann vor jedem Produkt, liest sich die Zutaten und Inhaltsstoffe akribisch durch. Wählt nur das aus, was nach ihren eigenen Kriterien und Vorstellungen zu einer gesunden Ernährung gehört.
Zwischendrin ein Apfel. Abgewogen, genau 130 Gramm. Mit einer Banane. Je grüner, desto weniger Fruchtzucker. Dazu Naturjoghurt. Bio und in der leichten Variante.
„Ausrutscher waren katastrophal. Etwas Ungesundes und Ungeplantes zu essen, war für mich ein Weltuntergang. Ein Kontrollverlust, den ich am nächsten Tag mit noch härteren Regeln, noch gesünderem Essen bestrafte“, beschreibt Ella. Eines Abends ist sie bei Freunden eingeladen – Snacks, Drinks und Ausgehen. Die Blicke der anderen nimmt sie gar nicht wahr, als sie ihren eigenen Rohkostteller mitbringt. „Spätestens als ich, scheinbar für jeden offensichtlich, den Gin in meinem Glas mit Wasser austauschte, merkten meine Freunde, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Ella. Auch ihre Eltern machen sich Sorgen. Warum will sie keine Pizza mehr? Nicht mal mehr einen Salat? Warum endet jedes gemeinsame Essen in Streit?
Diagnose: Orthorexie – zwanghaft gesundes Essen
Als sie in Tränen ausbricht wegen eines Tellers Weizennudeln, wird Ella sich ihres Problems bewusst. „Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Gleichzeitig war ich aber der festen Überzeugung, mit gesundem Essen nichts falsch zu machen. Mir war nicht klar, dass ich ernsthaft krank bin.“ Der Arzt diagnostiziert Orthorexie, eine Störung, bei der die Betroffenen sich zwanghaft gesund ernähren.
Gesunde Ernährung als Krankheit? An und für sich ist an gesunder Ernährung nichts auszusetzen. Das Paradoxon, dass gesundes Essen ungesund wird, ist heutzutage aber keine Seltenheit mehr. Hilfe OrhotrexieOrthorexia nervosa nennt sich die Krankheit. Die Sucht, sich gesund zu ernähren. Laut DAK-Ärztin Elisabeth Thomas kommt es dabei weniger auf die Menge als auf die Qualität des Essens an. Die subjektiv als ungesund eingestuften Lebensmittel und alles nicht Selbstgekochte wird vermieden. Grund dafür: Eine hypochondrische Furcht vor ungesundem Essen. Die Diagnose ist schwierig, denn häufig treten kaum körperliche Folgen auf. Müdigkeit und schlechte Haut nehmen Betroffene oft als Grund, sich noch gesünder zu ernähren. Dieses Essverhalten kann zu Mangelernährung, sozialer Isolation und Schuldgefühlen führen, berichtet ANAD e.V., das Versorgungszentrum für Essstörungen. Orthorexie gehört zu den neueren Formen der Zwangsstörungen, offiziell aber noch nicht zu den Essstörungen. Ob es sich hierbei um einen aufwendigen Lebensstil oder um eine ernsthafte Krankheit handelt, wird diskutiert.
Abendessen. Gerne früh, gerne vor 18.00 Uhr. Eine Packung Salat, 100 Gramm. Die andere Hälfte der grünen Paprika. Ein Dressing aus Joghurt und Pfeffer. Dazu ein Rührei aus einem Ei und einem Eiweiß. Wieder zwei Mandeln. Als Nachtisch zehn Erdbeeren mit 70 Gramm selbstgemachtem, zuckerfreiem Eis.
„Die Diagnose war hart. Ich habe mich schwergetan, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauche“, erzählt Ella. „Eine Sache war aber noch schwieriger für mich: Ich habe mitansehen müssen, wie hilflos meine Eltern waren, wie sehr sie unter meinen Zwängen und Launen litten. Meine gesamte Gedankenwelt war gefangen, ein Zustand, der für mich nicht auszuhalten war.“ Ella holt sich Hilfe und beginnt eine ambulante Therapie. Ein Jahr, zahlreiche Gespräche und viele Rückfälle später hat sie es geschafft: Hat ihre Lebensgeister wieder, mehr Raum für neue Gedanken, isst ohne Zwänge und Regeln. Ganz offen gibt sie zu: „Einfach war die Therapie nicht und schnell ging es auch nicht. Trotzdem war es die beste Entscheidung meines Lebens.“ Gesund essen tut sie immer noch, aber genauso gerne isst sie auch wieder im Restaurant oder mit Freunden.
Essen Sie noch normal? Orthorexie-Check (706167)Gefährdet für eine Orthorexie ist, wer Diäten mit strengen Regeln folgt und die Erwartungen an sich selbst zu hoch setzt. Je extremer und eingeschränkter die Ernährung, desto höher die Gefahr. Oft ist diese Krankheit eine Vorstufe oder auch ein Begleitsymptom einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie. Therapeutische Unterstützung ist hilfreich, um zu einem normalen Essverhalten zurück zu finden und den Leidensdruck zu verringern. Hilfe und weitere Informationen finden Sie hier.
„Wer so etwas übersteht, geht gestärkt daraus hervor“
Während Ella ihre Geschichte erzählt, schaut sie oft zu Boden. Schämt sich für eine gesunde Ernährung, die Außenstehende als vorbildlich bezeichnen würden. Heute ist sie oft wütend, sagt sie: Mit Orthorexie sei nicht zu spaßen. Für Ella war die Krankheit ihr Lebensinhalt. Hat ihren Alltag in Zwänge verwandelt, ihr die Freude am Essen genommen und sie bis in die Isolation getrieben. Doch mit der Wut kommt auch ihr Stolz: „Wer so etwas übersteht, geht gestärkt daraus hervor.“