Sounds of the Dolomites im Trentino: Dieses kostenlose Open-Air-Konzert hat seinen Preis: einen schweißtreibenden Aufstieg

Ein Bergseil liegt im Halbkreis auf der grünen Almwiese und markiert die Mini-Bühne: Mitten in der Natur sitzt im Schatten einer Lärche der Weltklasse-Musiker Avi Avital auf einem einfachen Holzstuhl mit seiner Mandoline in der Hand. Vor ihm ein Notenständer mit iPad und ein Publikum, das einen schweißtreibenden Vormittag hinter sich hat. Denn nur zu Fuß gelangt man zu diesen Konzertsaal unter freiem Himmel.

„Ich habe noch nie ein Konzert vor einer so schönen Kulisse gegeben“, sagt der 40-Jährige Musiker, der in Israel geboren wurde und in Mailand studiert hat, in fließendem Italienisch. Hinter ihm ragen die bis zu 3000 Meter hohen Felsgipfel der Dolomiten in den blauen Sommerhimmel.

Dolomiten 1855Allen Zuhörern gemeinsam ist die Tatsache, dass sie ihre Eintrittskarte zu diesem Event hart erarbeitet haben. Zwar sind die Plätze auf der grünen Wiese kostenlos, doch der Aufstieg zum Refugio Contrin hat es in sich. Es gibt keinen Parkplatz neben der Hütte, keinen Shuttle-Service im Geländewagen oder eine Seilbahn. Jeder, der in den Genuss des Konzertes kommen möchte, muss von Alba di Canazei, das im Tal auf 1517 Meter liegt, die 500 Höhenmeter bis zur Schutzhütte auf einem Weg mit steilen Kehren zurücklegen. Das erfordert mindestens zwei Stunden reine Gehzeit und schweißt zusammen.

Natura e cultura

Es ist High Noon in den Bergen, auf einer begrünten Natur-Arena am Ende eines Seitentals des Val di Fassa oberhalb der Contrin-Hütte. Das Solo-Konzert gehört zu den Höhepunkten des diesjährigen Konzertprogramms der Reihe „I Suoni delle Dolomiti“. Bei den zwei Dutzend Freiluftkonzerten der Reihe „Sounds of the Dolomites“ treten Ensembles, Solisten, Jazz-, Rock-, Klassik-, Folk- und World-Musiker im Hochgebirge auf. Die Veranstaltungsreihe existiert seit 1995 und ist im deutschen Sprachraum nur Insidern bekannt.

AviAvital_iPad

Schon nach dem ersten Stück, einer Sonate von Johann Sebastian Bach, zieht Avital seine Fließjacke aus und setzt die verspiegelte Sonnenbrille ab. Nähe entsteht bei diesem Konzert nicht nur zur Natur, sondern auch zwischen Musikern und Publikum. Jeder nimmt auf der gerade erst von Kühen abgegrasten Weide Platz, wo er möchte.

„Ich habe heute ein sehr breit gefächertes Programm ausgewählt“, erklärt Avital, „und spiele als nächstes ein Stück, von dem wir wissen, dass es das älteste ist, was für Solo-Mandoline komponiert wurde.“ Er stimmt erneut sein Instrument mit den vier Saitenpaaren und setzt zur „Partita für Mandoline in C-Dur“ des Komponisten Filippo Sauli an, ein Werk aus dem Jahre 1650.

FBAviAvitalDas Publikum sitzt oder liegt im Gras und lauscht den Klängen. Kinder kuscheln im Schoß ihrer Eltern, selbst die Hunde dösen friedlich vor sich hin. Keiner kramt im Rucksack und packt Lunch-Pakete aus oder holt die Trinkflasche hervor. Ein Picknick würde nur ablenken vom Hörerlebnis. Avital hat das Publikum mit seinem kleinen Instrument, das kaum größer als ein Schuhkarton ist, fest im Griff.

Uraufführung in den Dolomiten

Im Programm folgt das „neueste Stück, das für Mandoline geschrieben wurde. Giovanni Sollima hat es komponiert und mir die Noten erst vor drei Wochen zu geschickt“, kündigt Avital an. Der italienische Cellist und Komponist hat das Werk eigens für ihn geschrieben.

SoundsDolomites

Avital ist nicht nur der weltweit erste Mandolinist, der für einen Grammy nominiert war, sondern er hat für das Zupfinstrument auch den Weg zurück auf die Konzertbühnen des 21. Jahrhunderts geebnet. Indem er klassische Stücke für die Mandoline umschreibt oder von Gegenwartsmusikern neue Mandolinen-Stücke komponieren lässt. So kommt es zu der Uraufführung des Sollima-Werkes in 2100 Metern Höhe, mit der er das ungeheuer breite Klangspektrum seines Instruments ausschöpft.

Bach in den Bergen

Mit der bekannten „Partita Nr. 2 in d-moll“ (BWV 1004), die eigentlich für die Violine von Johann Sebastian Bach gedacht war, beschließt der „Mando Man“, wie ihn seine Fans auch nennen, das einstündige Mittagskonzert.

Dolomites

Am Ende hallt der Applaus durch das Tal. Ein kleiner Junge rennt nach vorne und überreicht ihm einen Blumenstrauß mit frisch gepflückten Wiesenblumen. „That is my son Hillel“, sagt Avital auf Englisch und erklärt, dass er normalerweise auf einer Konzertbühne hinter dem Vorhang verschwindet und mehrmals wieder hervorkommt, bis er zur Zugabe kommt. Hier aber geht das nicht. Hinter ihm fällt es steil bergab.

Deshalb gibt er gleich die Zugabe, einen „Bucimis“, einen bulgarischen Volkstanz. Hier zeigt Avital, wie mühelos und virtuos er zwischen den verschiedenen musikalischen Stilrichtungen wandeln kann. Er ist nicht nur ein Brückenbauer zwischen Welten – „Between Worlds“ lautet der Titel einer seiner CDs, sondern zwischen den Dolomitengipfeln gelingt ihm auch die einmalige Verbindung zwischen Naturkulisse und Hochkultur.

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Fahrt auf das Dach Europas