Fast jede Nacht unseres Lebens durchlaufen wir eine erstaunliche Metamorphose. Unser Gehirn verändert sein Verhalten und seine Bestimmung grundlegend. Es fährt unser Bewusstsein herunter. Eine Zeit lang sind wir fast gänzlich gelähmt. Manchmal glauben wir, fliegen zu können. Wir schlafen.
Um 350 v. Chr. verfasste Aristoteles einen Essay „Über Schlafen und Wachen“. Darin fragte er sich, was wir da eigentlich tun und warum. Die folgenden 2300 Jahre konnte niemand eine befriedigende Antwort darauf geben. Dann erfand der deutsche Neurologe und Psychiater Hans Berger 1924 den Elektroenzephalografen, der die elektrische Aktivität des Gehirns aufzeichnet. Damit wechselte der Schlaf von der Philosophie in die Naturwissenschaft. Alles, was wir über den Schlaf lernen, unterstreicht seine Bedeutung für unsere mentale und körperliche Gesundheit.
Ein Großteil der Deutschen schläft an einem normalen Werktag sieben Stunden oder weniger pro Nacht, das sind im Schnitt zwei Stunden weniger als im 19. Jahrhundert. Das liegt vor allem an der Verbreitung von elektrischem Licht, gefolgt von Fernsehern, Computern und Smartphones. In unserer ruhelosen Gesellschaft betrachten wir den Schlaf oft als Gegner: einen Zustand, der uns hindert, produktiv zu sein. In einer guten Nacht gleiten wir vier- oder fünfmal durch verschiedene Stadien des Schlafs, jedes davon hat einen ganz bestimmten Wert und Zweck.
Stadien 1 und 2 – Wir schlafen ein und unser Gehirn startet seinen Verarbeitungsprozess
Der menschliche Körper verweilt nicht gern zwischen zwei Zuständen. Wir ziehen es vor, wach zu sein oder zu schlafen. Wenn unser Biorhythmus an den Kreislauf aus Tageslicht und Dunkelheit angedockt ist, unsere Zirbeldrüse an der Hirnbasis Melatonin produziert, was „Abend!“ signalisiert,– dann wechseln unsere Neuronen in den Schlaf.
Teaser National GeographicWissenschaftler nennen diese Stufe Stadium 1, die seichte Phase am Beginn des Schlafs. Sie dauert vielleicht fünf Minuten. Danach kommen aus der Tiefe des Gehirns jede Menge elektrische Funken. Sie beschießen die Großhirnrinde. Diese Salven von jeweils einer halben Sekunde, im EEG sichtbar als sogenannte Schlafspindeln, zeigen an, dass wir in Stadium 2 eingetreten sind.
Lange nahm man an, dass unser Gehirn im Schlaf weniger aktiv ist – tatsächlich ist es nur anders aktiv. Die Spindeln des Stadiums 2 werden irgendwann weniger. Das bisschen, das wir vorher noch von der Außenwelt wahrgenommen haben, versinkt jetzt vollständig im Dunkel. Wir tauchen ab in den Tiefschlaf.
Stadien 3 und 4 – Wir treten ein in einen tiefen Schlaf, der besonders wichtig für unser Gehirn ist
Schlaf dient der Lebenserhaltung: Ein Lebewesen, egal wie groß oder komplex es ist, kann nicht 24 Stunden am Tag mit Volldampf laufen.
In der Tiefschlafphase produzieren unsere Zellen die meisten Wachstumshormone, die Knochen und Muskeln versorgen. Schlaf scheint auch wichtig zu sein für ein gesundes Immunsystem, die Körpertemperatur und den Blutdruck. Normalerweise träumen wir in diesem Stadium nicht. Es könnte sein, dass wir nicht einmal Schmerz empfinden. Wir verbleiben höchstens 30 Minuten in Stadium 4, dann steigt das Gehirn aus, und wir rutschen meist zurück in den Wachzustand. Selbst gesunde Schläfer wachen nachts mehrere Male auf, allerdings bemerken es die meisten nicht.
Wie die US-Gesundheitsbehörden wissen, leiden mehr als 80 Millionen erwachsene US-Bürger an chronischem Schlafmangel. Etwa ein Drittel der Menschheit leidet im Laufe des Lebens an zumindest einer diagnostizierbaren Schlafstörung, angefangen von chronischer Schlaflosigkeit bis zu Schlafapnoe und dem Restless-Leg-Syndrom.
Doch Schlaflosigkeit ist bei Weitem das häufigste Problem. Wenn aber Schlaf ein natürliches Phänomen ist, das im Laufe von Jahrmillionen immer weiter verfeinert wurde – warum haben dann so viele Menschen solche Probleme damit?
Die Evolution hat uns, wie alle Lebewesen, mit Schlaf ausgestattet, der im Timing flexibel und leicht zu unterbrechen ist. Im Gehirn ist in allen Schlafstadien ein Kontrollsystem aktiv. Es kann uns wecken, wenn es Gefahr registriert. Das Problem ist nur, dass dieser uralte, angeborene Weckruf heute ständig von Situationen ausgelöst wird, die gar nicht lebensgefährlich sind: die Angst vor einer Prüfung, finanzielle Sorgen oder die Autoalarmanlage in der Nachbarschaft.
Wer nachts regelmäßiger weniger als sechs Stunden schläft, hat ein erhöhtes Risiko, Depressionen oder Psychosen zu entwickeln oder einen Schlaganfall zu bekommen.
REM – Wir träumen, regulieren unsere Stimmungslage und festigen Erinnerungen
Rapid Eye Movement oder REM-Schlaf wurde 1953 von Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitman an der University of Chicago entdeckt. Das unauffällige Muster auf den frühen EEGs hatte dazu geführt, dass man diese Phase zunächst für eine Variante von Stadium 1 hielt. Doch die charakteristischen schnellen Augenbewegungen und die damit verbundene Schwellung der Geschlechtsorgane machten klar: Das lebhafte Träumen geschieht in dieser Phase.
Insgesamt nimmt der REM-Schlaf bei Erwachsenen etwa ein Fünftel der gesamten Ruhezeit ein. Im REM-Schlaf werden wir jedes Mal praktisch verrückt. Manche Schlafforscher sagen, Träumen sei ein psychotischer Zustand – also geprägt von Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Selbst wenn man sich nach dem Aufwachen an kein einziges Bild erinnern kann, träumt man. Träume werden fälschlicherweise häufig für flüchtige Blitze gehalten. Tatsächlich umfassen sie fast die gesamte REM-Phase, normalerweise etwa zwei Stunden pro Nacht.
Wenn wir wach sind, ist das Gehirn voll beschäftigt Doch wenn wir schlafen und in die REM-Phasen eintreten, kann dieses raffinierteste und komplexeste Werkzeug der Welt endlich tun, was ihm gefällt. Es träumt. „Schlafen ist gut für Gehirn und Körper, aber auch ein Erlebnis“, sagt Michael Perlis von der University of Pennsylvania. „Der REM-Schlaf ist vielleicht das Element, das uns am meisten zum Menschen macht.“
Aus dem Englischen von Karin Rausch